Streik in der Pflege. Am Beispiel der Krankenhausbewegung in NRW 2021/2022

Ein Bericht über die Protestwelle in Deutschland in zwei Teilen. Teil 2

ALT

In beiden Bewegungen erkämpften die Streikteilnehmer:innen einen Entlastungstarifvertrag. In dessen Gültigkeitsbereich sind Personalregelungen in Form von Verhältniszahlen vereinbart, die eine adäquate Versorgung der PatientInnen und verbesserte Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal bedeuten. In vielen Bereichen führen die Vereinbarungen zu einer Verdoppelung des Personals pro Schicht. Das zeigt, wie ausgeprägt der Pflegenotstand bereits ist.

Damit die Klinikbetreiber die vereinbarten Sollbesetzungen einhalten wurde ein System der Entlastungspunkte geschaffen: Sind sieben Punkte erreicht, bedeutet dies einen freien Tag für den Beschäftigten, ab dem dritten Geltungsjahres des neuen Tarifvertrags können bis zu 18 Tage im Jahr angesammelt werden. Das sorgt für einen Ausgleich für die Überarbeitung im Dienst und macht gleichzeitig Unterbesetzung teuer und unwirtschaftlich.

Beide Streikbewegungen zeichneten sich durch einen neuen Stil aus. Die Beschäftigten waren deutlich mehr in alle Vorbereitungen und Entscheidungen miteinbezogen. Sie erhielten detaillierte Informationen über die Durchführung des Streiks sowie über den Stand der Verhandlungen.

Die Vorbereitung des Streiks haben wir in der letzten Ausgabe von „Pflege in Bewegung“[1] am Beispiel Berlins geschildert. In dieser Ausgabe behandeln wir, wie in Nordrhein-Westfahlen die Forderungen in Einzelteams erarbeitet wurden, wie sie mit denen der anderen abgeglichen und durch Delegierte in die Verhandlungen getragen (stets auf Basis von Mehrheitsentscheidungen) wurden. Bei den fast drei Wochen dauernden Verhandlungen befanden sich die Delegierten in einem Nebengebäude. Das Verhandlungsteam, das den Arbeitgebern gegenübersaß, informierte und konsultierte die Delegierten regelmäßig über den aktuellen Stand der Verhandlungen. Die Delegierten setzten sich aus verschiedensten Berufsgruppen zusammen – Pflegekräfte aus Notaufnahme, Station, Anaesthesie, Ambulanzen, die Beschäftigten aus dem Patient:innenservice, den Laboren, der Küche, der Kindertagesstätten, die Therapeut:innen, das Transport -und Reinigungspersonal.

Mit vielen dieser Berufsgruppen waren schwierige und teilweise unbefriedigende Kompromisse notwendig: So konnten keine fixen Personalschlüssel pro Dienst wie in der Pflege vereinbart werden, sondern nur pauschale Regeln zum Personalaufbau.

Das zeigt, dass die neuen Tarifvereinbarungen nur ein erster Schritt zur Befreiung des Gesundheitssystems aus der Profitlogik sind. Ein weiterer wichtiger Schritt wäre die Abschaffung des Systems der Fallpauschalen, das unter der SPD/Grünen Regierung eingeführt wurde. In diesem System erhalten die Krankenhäuser nicht die realen Behandlungskosten, sondern einen Fixpreis pro Behandlung. Der dadurch bedingte Sparzwang animiert die Betreiber zum Personalabbau und spaltet die Beschäftigten.

Die beiden geschilderten Arbeitskämpfe waren hart, aber erfolgreich. Die Klinikbetreiber sind gerichtlich gegen die Streikenden vorgegangen, sie haben die Klinikvorstände für ihre Interessen mobilisiert und zudem versucht mit dem Deutschen Beamtenbund eine Sonderregelung zu treffen, um die Belegschaften zu spalten. Dennoch waren die Auseinandersetzungen erfolgreich. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Gewerkschaft ver.di nach anfänglichem Sträuben in Berlin auf diese neue, demokratische Methode eines Streiks eingelassen hat. Die Folge ist außerdem eine deutliche Steigerung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads: in den von den neuen Tarifverträgen betroffenen Bereichen sind nun über 50 Prozent der nichtärztlichen Beschäftigten Mitglieder der Gewerkschaft.

Für die am Streik Teilnehmenden gab es einen Qualitätssprung im Selbstbewusstsein. Der Prozess der gemeinsamen Vorbereitung auf den Streik und der Formulierung des Forderungskatalogs im direkten Gespräch mit Kolleg:innen führte zu einem neuen Zusammenhalt. Viele entdeckten, dass sie selbst Expert:innen für den eigenen Arbeitsplatz sind und notwendige Verbesserungen selbst am besten einschätzen können. Dadurch durchbrachen die Streikenden auch ihre eigene passive Haltung. Missstände, an die man sich bereits in der Ausbildung gewöhnt hatte, waren nun nicht mehr selbstverständlich und unveränderlich. In Interviews nach dem erfolgreichen Ende war oft zu lesen, man sei nicht mehr dieselbe Person.

Fassen wir zusammen: Hauptziel der Arbeitskämpfe war die Entlastung der Beschäftigten von den nicht mehr erträglichen Arbeitsbedingungen angesichts des fortgeschrittenen Pflegenotstands. Diese Kämpfe waren überraschend erfolgreich. Um mit den Worten von Moritz Lange, dem zuständigen Gewerkschaftssekretär von ver.di abzuschließen: „Ich denke, wenn man eine Forderung hat, die wirklich das Leben verändern würde, gibt es diese Chance auf eine unerwartet machtvolle Bewegung.“