Streik der Pflege im National Health Service
2022 betrug der Jahresumsatz des National Health Service (NHS) 153 Mrd. Pfund. Er repräsentiert damit eine beträchtliche Marktmacht gegenüber der Pharma- und Gesundheitsindustrie und hilft, die Preise für Medizinprodukte und Medikamente niedrig zu halten. Den Konservativen war das National Health Service als reale Verkörperung des Wohlstandsstaats immer ein Dorn im Auge. Schon die erste konservative Nachkriegsregierung führte eine Rezeptgebühr für Medikamente ein, die neoliberale Premierministerin Margaret Thatcher reduzierte das medizinische Angebot, das Pflegepersonal und die Ärzte durch Massenentlassungen. Der konservative Premier David Cameron organisierte 2015 Einsparungen in der Höhe von 18 Mrd. Euro bei einem damaligen Gesamtbudget von 115 Mrd. durch Reduktion des Angebots und der Stellen. Diese Politik führte zu einem massiven Reallohnverlust der Beschäftigten (Assistenzärzte sprechen von 28 Prozent Reallohnverlust seit 2008) und immer länger werdenden Wartelisten von Patient:innen: Ende Juli 2023 umfasst die Liste der auf Behandlung/Beratungstermine Wartenden 7,6 Millionen Personen, seit Dezember 2022 sind 835.000 geplante Operationen nicht durchgeführt worden. Soweit die Folgen des konsequenten Kaputtsparens durch konservativ-neoliberale Politiker.
Die bereits miserablen Arbeitsbedingungen verschlimmerten sich während der Corona-Pandemie weiter, da in dieser Zeit phasenweise bis zu 50 Prozent der Beschäftigten arbeitsunfähig waren. Infolge des Brexit kam es zusätzlich zu einer Rückwanderung von Pflege und Ärztlichen Personals in die EU, infolgedessen sind derzeit 130.000 Stellen im NHS nicht besetzt.
Viele Menschen, die schwer erkranken, sind gezwungen in das private Medizinsystem zu wechseln, um zeitgerechte medizinische Hilfe zu erhalten. Die Kosten dafür sind exorbitant und ganze Familien legen zusammen um z.B. rasche Krebsbehandlungen für Angehörige zu ermöglichen. Leider ist die Qualität der Betreuung auch im Privatsektor nicht, wie man aufgrund der Preise annehmen könnte, hervorragend, sondern in der gegenwärtigen Situation oft ebenfalls enttäuschend. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Unterstützung für die Arbeitskämpfe im NHS in den Meinungsumfragen hoch und trotz der schon über 6 Monate langen Dauer der Streiks sogar noch gewachsen ist.
Die Menschen verstehen, dass es den Beschäftigten nicht nur um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen geht, sondern um die Wiederherstellung der vollen Funktionstüchtigkeit des NHS. Im Juni 2023 haben nur 24 Prozent der Befragten diese Arbeitskämpfe abgelehnt, dagegen befürworteten 62 Prozent den Streik der Pflege und 56 Prozent den der Assistenzärzte.
Die Streikbewegung begann im November 2022 im Pflegebereich. Hierbei muss man die restriktiven Gesetze hinsichtlich der Durchführung von Streiks im Vereinigten Königreich berücksichtigen. Die Gewerkschaften müssen eine Urabstimmung durchführen, mindestens 50 Prozent der Mitglieder müssen daran teilnehmen und davon muss sich die Hälfte für die Erteilung des Streikmandats an die Gewerkschaften aussprechen. Dieses Mandat gilt für sechs Monate.
Führende Gewerkschaft in diesem Arbeitskampf ist die RCN (Royal College of Nurses) mit 465.000 Mitgliedern, eine Organisation die in ihrer 102-jährigen Geschichte noch nie einen derartigen Arbeitskampf organisiert hat. Bei der Urabstimmung 2022 votierten 92,5 Prozent für den Streik. Weitere involvierte Gewerkschaften sind UNITE und GMB. Höhepunkt des Arbeitskampfes war der 6. und 7. Februar 2023. An diesen Tagen legten mehrere 10.000 Beschäftigte in 73 Krankenhäusern die Arbeit nieder, wobei flächendeckend auf die Aufrechterhaltung der Notfallversorgung und Priorisierung von lebensrettenden Diensten geachtet wurde. Im März war Gesundheitsminister Barclay zu Verhandlungen bereit. Sein Angebot bestand aus einer Einmalzahlung von 2 Prozent, einem Corona-Bonus von 4 Prozent für 2022/23 und einer Lohnerhöhung von 5 Prozent ab April 2023 und lag somit unter der Inflationsrate. Obwohl zu dieser Zeit die Unruhe in der Ärzt:innenschaft wuchs, entschloss sich die Führung der RCN unter Pat Cullen die Annahme des Ergebnisses zu empfehlen. Die Beschäftigten waren anderer Ansicht. In der Urabstimmung lehnten 54 Prozent den ausverhandelten Tarifvertrag bei einer Wahlbeteiligung von 61% ab. Die Gewerkschaft UNITE lehnte das Verhandlungsergebnis überhaupt ab.
Die Führung der RCN beschloss daraufhin eine erneute Urabstimmung über die Wiederaufnahme des Arbeitskampfes, da ihr Streikmandat nach 6 Monaten abgelaufen war. Mittlerweile hatte die British Medical Association (BMA) bekanntgegeben, dass die 61.000 Assistenzärzt:innen des NHS eine Gehaltsanhebung von 35% fordern. Begründet wurde die Forderung mit den Reallohnverlusten von 26,2 Prozent seit 2008.
In der zweiten Aprilwoche kam es zu einem vier Tage dauernden Streik. Das Management des NHS war sehr beunruhigt und schlug die Anrufung der Schlichtungsstelle ACAS vor. Die Regierung lehnte das und jedwedes Gespräch ab. Daraufhin gab die BMA bekannt, dass sie sich einen Arbeitskampf bis zu den nächsten Unterhauswahlen vorstellen könne. Die Ressourcen und die Solidarität innerhalb der Ärzt:innenschaft seien vorhanden. Das ist wichtig, da die Ärzt:innen während des Streiks nicht bezahlt werden. Vom 13. - 18. Juli legten die Assistenzärzte im längsten Streik der NHS-Geschichte die Arbeit nieder und die Fachärzt:innen beschlossen erstmals seit 50 Jahren, sich für zwei Tage diesem Streik anzuschließen.
Allerdings verlief die Urabstimmung der Pflege am 27. Juni 2023 wegen einer zu geringen Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent trotz 84 Prozent Zustimmung für die Fortsetzung des Arbeitskampfes nicht erfolgreich. Mittlerweile hat es die fünfte Runde des Assistenzarztstreikes vom 11. - 15. August gegeben, Streiks der Fachärzt:innen sind für den 24. und 25. August und den 19. und 20. September vorgesehen. Die Gewerkschaften der Pflege überlegen eine erneute Urabstimmung, da mittlerweile Gehaltserhöhungen im Öffentlichen Dienst vereinbart wurden und die Erhöhungen im Bereich der Pflege vergleichsweise am geringsten ausfallen. Den höchsten Zuwachs erhalten Polizei und Justizwache.
Bei den Ärzt:innen hat eine weitere Abwanderungswelle begonnen und zwar nach Australien, Neuseeland und Kanada, also in Länder mit besseren Arbeitsbedingungen und höheren Einkommen. Für die konservative Regierung kommen Gespräche dennoch nicht in Frage, sie hat den Assistenzärzt: innen ein Angebot gemacht, das ebenfalls weit unter deren Forderungen liegt und dieses für nicht verhandelbar erklärt.
Die Führung des NHS fürchtet den Kollaps des Gesundheitssystems im Winter 23/24 und beschwört die Kontrahenten zu verhandeln. Zudem will die Regierung die bisher verhandelten Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst aus dem laufenden Budget finanzieren, was saftige Erhöhungen von Gebühren und Einsparungen von sozialen, medizinischen und Bildungsangeboten zur Folge hat. Uns zeigt sich das Bild einer Regierung der Superreichen, der die Menschen und ihre Bedürfnisse absolut egal sind. Zugleich gewährt es aber auch Einblick in die Probleme, die Gewerkschaften haben, wenn sie ihre Mitglieder nicht rechtzeitig in die Diskussion und die Vorbereitung von Arbeitskämpfen, deren Ziele und die anzuwendende Taktik einbinden.
Der Kampf im Vereinigten Königreich ist nicht zu Ende, aber er sollte für uns auch eine Warnung sein, welche Verheerungen neoliberale Regierungen und neoliberales Denken in einem Land anrichten können, wenn sie lange genug ohne energischen Widerstand schalten und walten können.
Veröffentlicht: 6. Oktober 2023