Die Triage der Pflegetätigkeiten

Ein kurzer Überblick über die „MissCare Austria“ Studie

ALT

Die Personalbedarfsberechnungen unserer Pflegeeinrichtungen sind überwiegend durch zwei entscheidende Kriterien geprägt: einerseits durch eine minutiöse Einzelabrechnung von Tätigkeiten, angelehnt an die Akkordarbeit in der Fließbandindustrie. Dazu zählen etwa Programme wie PPR / DGK-85 in Krankenanstalten. Andererseits, aber nicht weniger einflussreich, durch politische Vorgaben und Entscheidungen, etwa die Personalausstattungsverordnung für Pflegeheime. Eine notwendige pflegewissenschaftliche Grundlage hingegen fließt gar nicht in diese Bedarfserhebungen ein. Und das, obwohl Pflegekräfte aus der Praxis in mittlerweile beängstigendem Ausmaß von Überlastung, Personalmangel und leichten bis schweren Folgen für die Patient:innen durch Strukturfehler berichten.

Ein Forschungsteam um Ana Cartaxo und Hanna Mayer hat erstmals in Österreich die „MissCare Austria“ Studie durchgeführt. Diese nähert sich den oben geschilderten Problemen von einer wissenschaftlich fundierten Seite und sammelt dafür empirische Belege. Dazu befragten die Autor:innen 1.000 repräsentativ ausgewählte Pflegekräfte auf Allgemeinstationen in österreichischen Krankenhäusern. Die konkrete Fragestellung lautete, ob und welche Pflegetätigkeiten sie mittlerweile weglassen müssen, um mit ihrer Dienstzeit auszukommen. 18 Prozent der Studienteilnehmer:innen kamen dabei aus der Steiermark.

Die Ergebnisse sind erschreckend

Mehr als 84 Prozent der Befragten gaben an, Tätigkeiten weglassen zu müssen (Mehrfachnennungen möglich). Das beginnt bei emotionaler Unterstützung und Gesprächsführung. Hier geben über 60 Prozent der befragten Pflegekräfte an, diese oftmals nicht oder nur mehr zeitverzögert durchführen zu können. 40 Prozent führten an, Einschnitte bei der Überwachung von Vitalwerten, der Mobilisation oder der Medikamentenüberwachung machen zu müssen. Am unteren Ende der verzögerten oder weggelassenen Tätigkeiten finden sich Blutzuckermessungen oder das Pflegen von zentralen Venenkathetern mit rund zehn Prozent an Nennungen. Die vorrangigen Gründe, eine oder mehrere eigentlich notwendige und vorgesehene Tätigkeiten, wegzulassen waren: Mehrere Tätigkeiten mussten gleichzeitig durchgeführt werden; häufiges Unterbrochenwerden bei Pflegetätigkeiten, die Zunahme hochpflegebedürftiger Patient:innen. Und schließlich war, ganz generell betrachtet, der immer gravierendere Personalmangel der zentrale Faktor, weshalb pflegerische Tätigkeiten nicht durchgeführt werden konnten.

Dabei sind Komplikationen bei Diabetiker:innen oder Infektionen bei zentralen Venenkathetern potentiell tödlich! Die Wundversorgung und andere pflegerische Tätigkeiten findet laut Studie bei rund zehn Prozent dieser Patient:innen jedoch gar nicht oder nur mehr zeitverzögert statt. Folglich ist es definitiv nicht übertrieben von einem akuten Pflegenotstand zu sprechen.

Das Ergebnis der „MissCare Austria“ Studie ist klar und eindeutig: Notwendige Tätigkeiten werden bereits rationiert, weil es zu wenig Personal gibt. So wie in der Medizin bereits regelmäßig Triage angewendet werden muss (vergl. Der Standard, 8.1.2023, „Spitäler am Limit: Das Personal wird an allen Ecken verheizt“), so sind auch potentiell gefährliche bis tödliche Folgen von fehlenden Pflegetätigkeiten bereits Alltag in österreichischen Einrichtungen.

Lösungsansätze

Es müssen daher rasch notwendige, vielfältige, kurz- und langfristige Lösungen für die Probleme im österreichischem Pflegesystem her. Zu viele Bereiche wurden teilweise Jahrzehnte nicht mehr reformiert: Aus-, Fort- und Weiterbildung, hierarchische Strukturen wie im Jahr 1960, das Credo „mobil vor stationär“ wird nach wie vor kaum beachtet, fehlende Strukturen zur ganzheitlichen Versorgung, Arbeitsbedingungen ganz generell, Personalbedarfsberechnungen, Arbeitszeitmodelle, geringe Bezahlung, fehlende Zuständigkeiten und Kompetenzen im Spannungsfeld Land-Bund-Private und vieles mehr.

Vor knapp einem Jahr präsentierten die Verantwortlichen von Bund und Land überschwänglich eine angeblich große Pflegereform. Außer dieser Ankündigung ist jedoch bisher wenig bis gar nichts passiert. Lediglich unzureichende Einmalzahlungen sowie marginale Erhöhungen für Ausbildung, Pflegekräfte und Angehörige sind seitens der Bundes- und Landesregierung beschlossen worden.

Das ist ein motivierter Beginn, aber noch lange keine Reform. Wir werden daher nicht lockerlassen, sondern weiterhin den Druck von unten aufrechterhalten.

Quellen:

Cartaxo, A., Eberl, I. & Mayer, H. Die MISSCARE-Austria-Studie – Teil I. HBScience 13 (Suppl 2), 30–42 (2022). https://doi.org/10.1007/s16024-022-00387-x

Cartaxo, A., Eberl, I. & Mayer, H. Die MISSCARE-Austria-Studie – Teil II. HBScience 13 (Suppl 2), 43–60 (2022). https://doi.org/10.1007/s16024-022-00389-9